Hochbegabt

Wenn ich heute in die erste Klasse gehen würde, wäre ich eindeutig eines: Hochbegabt. Jawoll, aber so was von …

Damals in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten meine Eltern, Schwestern und Lehrer/innen eine ganz andere Einstellung zu meinen Begabungen: Nervtötend … aber so was von!

Mit drei Jahren wurde ich zum ersten Mal verhaftet – wegen Erdbeerdiebstahls im Garten der paranoiden Nachbarin. Mit vier Jahren flog ich in Folge aus zwei Kindergärten. Meine Vergehen: Erpressung an der Rutsche und Plünderung der Nikolausgeschenke für private Zwecke. Der dritte Kinderhort wusste über meine Missetaten bestens Bescheid und verweigerte mir strikt den Zutritt. Mit fünf Jahren erzählte ich meiner Kinderbande die wildesten, frei erfundenen Gruselgeschichten, vor denen ich nachts am meisten Angst hatte und nicht einschlafen konnte. Außerdem brannte ich regelmäßig mit der Bandenkasse durch. Mit sechs Jahren bekreuzigten sich meine Eltern und steckten mich in die 1. Klasse. Hier flog ich aus der Mengenlehreversuchsklasse. Grund: Ich stibitzte geometrische Formen aus den Teil- und Schnittmengen meiner Nachbarn, um blühende Landschaften zu legen. So landete ich bei Frau Bitter in der Schwererziehbarenklasse. Ja, so hieß das damals wirklich und keiner fühlte sich diskriminiert.

Ich höre jetzt besser auf, sonst bekommt ihr ein völlig falsches Bild von mir. Denn ganz klar, heute wäre ich hochbegabt. Meine Mutter würde vor den Zumbafrauen von meinen vielseitigen kreativen Begabungen schwärmen und mein Vater die außergewöhnliche emotionale Intelligenz seiner Jüngsten bei den Smartwatch-Kumpels anpreisen. Schade, dass es in den 70ern nur Kegelvereine und Stammtische gab.

Zurück ins hier und heute: Samstag beim Bäcker. Samstag ist „Heute-gehst-du-mit-den-Kindern-zum-Bäcker-ich-mache-das-die-ganze-Zeit-und-du-kannst-auch-mal-was-machen-und-nehmt-die-Fahrräder“-Tag. Konkret bedeutet das, dass die Schlange lang ist. Sehr lang, sehr laut und sehr gefährlich. Ich sehe zwei Jungs quer über der leicht durchhängenden Tresenabdeckung hängen. Muss so sein, sonst könnten sie ja die Hildabrötchen und Amerikaner nicht von oben sehen. Ein kleines Mädchen schreit. Steht mitten im Raum und brüllt. Der Erzeuger kennt das wohl. Er ist nämlich gut im ignorieren und erklärt gerade ausführlich einem anderen Vater, dass die Kleine eben hochsensibel, hochbegabt, hochemotional, hochsensitiv, hochgezwirbelt und hochgebügelt – einfach irgendetwas mit hoch ist. Ich wundere mich, ich staune vor mich hin, dann reiße ich mich zusammen und gebe meine Bestellung auf. In dem Moment drängeln sich zwei Schwestern vor mich, nicht weil sie es müssen, nein, einfach weil sie es können. Bevor ich mich in Sicherheit bringen kann, wird geschubst und gestoßen, gezischelt und mir auf den Füßen rumgetreten. Ich versuche an meine mir gerade gereichten Brötchen zu kommen, aber das klappt nicht. Ich schaue mich nach dem Erziehungsberechtigten um. Ich erkenne ihn an seinem weggetretenen Gesichtsausdruck. Er ist woanders, ganz woanders. Ich sage mir innerlich: Keine Kinder schubsen, Claudia, durchatmen, nicht treten, nicht an den Haaren ziehen. Ich angele nach der Tüte, klappt nicht, alles fällt auf den Boden, aber die zwei hampeln immer noch vor mir rum. Vielleicht ist genau hier ne Wasserader oder ein Pokémon go Point. Egal. Verkäuferin und ich umrunden die komplette Theke. Sie bekommt ihr Geld, ich meine neuen Brötchen. Meine Beute fest an die Brust gedrückt passiere ich das Duo Infernale und sage ganz, ganz leise „Rotznasen“. Sie schauen mich verdutzt an. Das Gute ist, die können mit dem veralteten Begriff nichts anfangen. Aber vielleicht haben sie auch nur „Osterhasen“ verstanden.

Ich bin ehrlich. Wenn es damals möglich gewesen wäre, hätte ich eines mit Sicherheit noch ausgiebiger gemacht: Erwachsene genervt. Jawoll, aber so was von …

Nur ging das zumindest bei mir nicht. Da gab es Sätze wie „Wegen irgendwas hast du die Ohrfeige vom Lehrer sicher verdient“ oder „Hör auf zu heulen, sonst geb ich dir nen Grund dazu“. Nicht, dass ich diese Erziehungsmaßnahmen heute noch befürworten würde. Aber Grenzen wären schön. Ein paar klare Regeln wären klasse. Und hören wir doch endlich mit dem Hochbegabten-Quatsch auf. Kinder sind dafür nämlich viel zu schade.